Ich habe gestern in einer Bahnhofsbuchhandlung ein Buch gekauft. Mit rotem Aufkleber „Der Bestseller aus Frankreich“ und mit modernem, schickem Cover. Der Text selbst ist 250 Jahre alt. Es handelt sich um Voltaires „Über die Toleranz“, eine Schrift, die nach den Anschlägen auf die Macher der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo zum Bestseller und Mahnmal gegen den islamistischen Terror geworden ist.
Voltaire schreibt über Vorgänge seiner Zeit, in denen ein hugenottischer Familienvater in Toulouse aufs Grausamste ermordet wird. Weil er Protestant ist, weil das in der Mehrheit katholische Volk meint, er habe seinen Sohn aus religiösen Gründen umgebracht, und weil dieses Volk die Richter zu einem solch bestialischen Urteil anstachelt: Der 68jährige Mann wird gefoltert, gerädert, erdrosselt und schließlich verbrannt. Dabei hatte sein Sohn für alle offensichtlich Selbstmord begangen: Die Türen waren verschlossen, es fehlten sämtliche Spuren eines Kampfes.
Voltaires Text über Fanatismus und Toleranz ist großartig und tatsächlich aktuell, vor allem dieser Satz:
„Es scheint, als ob der Fanatismus, aufgebracht über die kleinen Fortschritte der Vernunft, sich mit desto größerer Wut gegen sie auflehnte.“
Besondere Aktualität bekommt das ganze Buch durch das Vorwort des Chefredakteurs der Tageszeitung Libération Laurent Joffrin, der das Ganze in das Licht der Anschläge auf die erwähnte Satire-Zeitschrift bezieht.
An dieser Stelle könnte oder sollte man sogar einen Traktat darüber einschalten, dass man kein Wort darüber findet, wie diese islamistischen Fundamentalisten in einer so laizistischen, toleranten Gesellschaft radikalisiert worden sind. Kein Hinterfragen, ob diese Gesellschaft wirklich so tolerant ist und ob die Menschen wirklich allein von den Werten, der Freiheit und Toleranz dieser Gesellschaft abgestoßen werden. Dabei könnte man sehr gut die hysterische Reaktion der katholischen Bevölkerung von Toulouse auf den toten Protestanten sehr wohl auch mit den hysterischen Reaktion der französischen Gesellschaft auf ihre muslimischen Mitglieder vergleichen: Unterdrückt hier nicht eine tolerante Gesellschaft Menschen, indem sie ihnen vorschreibt, wie sie sich am Strand oder auf der Straße zu kleiden hat? Aber ich bin nicht in der Lage, mich darüber so differenziert zu äußern, wie es nötig wäre.
Stattdessen rege ich mich über etwas auf, was im Vergleich dazu als Petitesse erscheint. Das Buch ist im Jahre 2015 erschienen. Man könnte nun den Verlagen unterstellen, dass sie eine Gelegenheit, ordentlich Geld zu verdienen, genutzt haben. Immerhin haben viele Buchhändler Voltaires Schrift im Januar 2015 als ihr „Je Suis Charlie“ in die Schaufenster gestellt. Vermutlich würden die Verlage das aber als zynisch zurückweisen.
Suhrkamp jedenfalls wirft die deutsche Ausgabe im selben Jahr auf den Markt. Das Vorwort von Laurent Joffrin selbstverständlich in Übersetzung. Die Texte von Voltaire hingegen – vor „Über die Toleranz“ finden sich noch Voltaires Definition von Fanatismus und Toleranz aus „Questions sur l’encyclopedie“ – sind nicht neu übersetzt.
Wenn ich ein Werk wieder herausbringe, nicht weil es mir Geld bringt, sondern weil ich von der Aktualität des Textes überzeugt bin und weil ich wirklich will, dass große Teile der Bevölkerung diesen Text lesen, darüber nachdenken und vielleicht ein wenig besser durch den Alltag eines denkenden Individuums dieser Gesellschaft kommen. Wenn es mir also um den Text und nicht ums schnelle Geld geht, was tue ich dann: Haue ich dann einfach uralte Übersetzungen zusammen? Ändere nicht einmal die Rechtschreibung – obwohl ich glaube, dass sich Suhrkamp hier mit seiner generellen Bockigkeit, die Rechtschreibreform anzuerkennen, entschuldigen könnte – und nehme eine Text, den ein promovierter Klassischer Philologe ohne Probleme lesen, nicht aber an seine Nachbarn in Köln-Kalk verschenken kann?
Wenn ich wirklich etwas mit dieser Ausgabe hätte erreichen wollen außer schnellem Geld, hätte ich den Text, der für sich nicht sonderlich schwer ist, neu übersetzen lassen. Dann wäre er vielleicht eben erst 2016 erschienen. Dass Voltaires „Über die Toleranz“ aktuell bleibt, steht leider außer Frage. Und so ist diese Ausgabe ein Zwitterwesen: Vom Design her ein schickes Taschenbuch für die große Auslage und für die Badewanne, vom Text her sollte man schon einige deutsche Texte aus dem Ende des 18. Jahrhunderts gelesen haben.
Anhang
Nur drei Beispiele, warum eine breite Leserschaft den Text (zu) schwierig/komisch finden wird:
„umkömmt“ und andere Forme von Komposita von „kommen“.
„Einer seiner Söhne, Mark-Anton [JA, DIE NAMEN SIND ÜBERSETZT!!1!], hatte sich auf Wissenschaften gelegt…“
„endlich“ = schließlich, nun, darauf.